Schotten-Karo (c) dege

DEBATTE UM SCHOTTLAND

Georg Dekas
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5. September 2014

Schottland und andere europäische Regionen mit langer, eigener Geschichte folgen dem technologischen Fortschritt: Eigenständigkeit bei Vernetzung. Eine attraktive Formel auch für Staaten. Kein „Unfug“.

 

Neue Südtiroler Tageszeitung, 5. September 2014. Große Titel-Fotomontage „Südtirol ist nicht Schottland“. Anton Pelinka im Interview.

Der Kernsatz: „Also das Selbstbestimmungsrecht ist aus meiner Sicht vom Grundgedanken her ein gefährlicher Unfug“ – „Weil es von der Annahme ausgeht, es sei objektiv klar, was ein Volk ist, und das ist ja nicht klar, sondern ein Unfug.“

Pelinka benutzt Kampfbegriffe wie „Sezessionsnationalismen“ und reduziert die Unabhängigkeitsbewegungen („sehe da wenig Neues“) auf den Begriff „Nationalismus“, der für ihn „expansiv“, „aggressiv“ und „grauslich“ ist.

Dem Professor Pelinka ist vorab zu antworten: Reden Sie nun als Wissenschafter oder als Meinungsmacher? Tatsache ist, hier wird ein wissenschaftlicher Anspruch vorgelegt. Doch hört man nur Meinung.

Sie behaupten, das Selbstbestimmungsrecht – als Berufung auf eine eigene Staatsgründung – sei Unfug, weil es etwas voraussetze, was es nicht gibt, nämlich das Volk. Im gleichen Artikel aber führen Sie für Schottland das Volk und die Bedingungen für eine eigene Staatsgründung auf: Schottland sei „relativ klar abgegrenzt“, habe ein „gemeinsames historisches Narrativ“, „und die Frage, wo Schottland endet, ist außer Streit gestellt“. Na also.

 

 

Da sind wir Südtiroler nicht schlechter. Alle drei Bedingungen treffen auf uns zu. Umschreiben Sie den für Sie ungemütlichen Begriff „Volk“ ruhig mit „gemeinsames historisches Narrativ“, wenn Ihnen das besser vorkommt. Trotzdem, Ihre Vorstellung von „Volk“ ist schon eigenartig.
Nur Nazis stellen sich das Volk als reinrassige, einsprachige, gleich gesinnte Masse vor. Sie offensichtlich auch, sonst würde das Fehlen von Uniformität von Ihnen wohl nicht als Bewertungsmaßstab für die Güte des Begriffes „Volk“ herangezogen werden.

Das Volk und die Selbstbestimmung halten sich zum Glück nicht an ihre Wissenschaft. In der Wirklichkeit haben wir zwei grandiose Beispiele, wo das Volk mehrsprachig und aus unterschiedlichen Kulturen kommt, und wo die Selbstbestimmung erfolgreich erkämpft und durchgesetzt wurde: Es sind dies die Vereinigten Staaten von Amerika und die Schweiz. Zwei große „Willensnationen“.

Nicht die ethnische und sprachliche Herkunft ist entscheidend, sondern der Wille, in einem „relativ klar abgegrenzten“ und mit eigenen Mitteln hinreichend ausgestatteten Gebiet ein selbst verwaltetes Gemeinwesen haben zu wollen und nicht eine ferne Elite, die den Rahm für sich abschöpft.
Diese historisch belegbare „Nationen-Bildung“ hat rein gar nichts mit dem ideologisch besetzten Lehr- und Polemik-Begriff „Nationalismus“ zu tun.

Als Politikwissenschaftler (und mein ehemaliger Lehrer) wissen Sie unendlich viel besser als ich, was der Nationalismus des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts war. Umso mehr bin ich verwundert, dass Sie in den neuen Strömungen „wenig Neues“ sehen – Sie wollen damit wahrscheinlich sagen, dass die „Sezessionsnationalismen“ wie Sie das nennen, eigentlich nur lästige Nachläufer der bekannten damaligen Nationalismen seien und entsprechend unheilvoll. Natürlich teile ich Ihre Meinung, wenn wir auf die Anwendung und Anwendbarkeit des Wilsonschen Ideals in der Zeit ab 1918 sehen, und natürlich ist das Selbstbestimmungsrecht als universales Menschenrecht der Vereinten Nationen nichts, wofür man sich ein Butterbrot kaufen könnte. Aber es schmeißt ja auch niemand die Menschenrechte weg, nur weil deren Durchsetzung schwierig bis unmöglich ist und weil sogar deren Verfechter und Treuhänder diese Rechte nicht selten zynisch zu ihrem Vorteil nutzen oder sie bei anderen einfordern und selber nicht einhalten. Deswegen ist das Menschenrecht kein gefährlicher Unfug.

Aber lassen wir diese Grundsatzdebatte. Versuchen wir auch nicht, alle neueren Staatengründungen über einen Kamm scheren zu wollen, das ist nicht sinnvoll. Sie wissen sehr wohl, dass die neueren Staatenbildungen im östlichen Europa, vom Kosovo bis zur Slowakei, von Slowenien bis zur Ukraine, ganz eigene und andere Voraussetzungen, Zufallsereignisse usw. zu eigen hatten, als das, was sich jetzt in West- und Mitteleuropa anbahnt. Überhaupt setzt die Fragestellung, „Was hat Südtirol mit Schottland gemein?“, voraus, dass es so etwas wie objektive, quasi physikalische Bedingungen für das Entstehen von Eigenstaatlichkeit gäbe.

Aber die neuen Bewegungen im Westen Europas, die der Schotten, Flamen, der Basken, der Katalanen, der Sarden und Sizilianer, der Veneter und Lombarden, bis hin zu den Tirolern, die als Folge höherer Gewalt so spät wie 1919 in ein ihnen unangemessenes Staatsgebilde gezwängt wurden – alle diese Bewegungen sind nur sehr unzutreffend mit dem Begriff „Nationalismus“ und auch nicht mit dem Begriff „Sezession“ zu beschreiben.

 

„Sezession“ ist ein Kampfwort ebenso wie „Terrorist“, das in der taktischen Kriegführung über die Medien von demjenigen eingesetzt wird, der seinen Gegner dadurch herabwürdigen, schwächen und als das Böse hinstellen will. Das Kampfwort „Sezession“ gebrauchen die Nationalstaaten, wenn sich eine ihrer Regionen politisch selbständig machen will. Nicht um Abspaltung geht es, sondern um Eigenständigkeit im Verbund. Das ist der Geist des neuen Europa, und diesem Ruf folgen die „alten“, trotz Absolutismus, Nationalismus und Faschismus immer  noch selbstbewussten Kernländer des Kontinents.
Diese uralten Regionen tun etwas sehr Modernes und sehr wohl Neues: Sie folgen dem technologischen Fortschritt, der das Leben und die Gesellschaft verändert. Das Internet hat uns neu gelehrt, wie Vernetzung und Eigenständigkeit gleichzeitig geht. Die Weltwirtschaft und ihre Unternehmen agieren in kleinen, möglichst eigenständigen Einheiten, um den Konzernerfolg als Ganzes zu optimieren. Jeder Konzernlenker hat sich vom starren Zentralismus schon längst verabschiedet – im Namen von Machbarkeit, Erfolg, Gewinn, Vernunft. Das, was die Wirtschaft längst begonnen und schon vielfach vollendet hat, das beginnt sich jetzt in der Politik zu rühren. Es ist sehr wohl etwas Neues, was hier entsteht.

 

 

Denn was ist unsere politische Großwetterlage heute? Die Globalisierung ist in vollem Gang, dabei werden massiv Gewichte verschoben, deren Reibung neue Konflikte schafft. Wir haben eine mastodontische Europäische Union der Eliten, der Lenker Ferndenker sind. Die können nicht mehr tun, was die bare Wahrnehmung sagt, sondern sie müssen dreimal um die Ecke denken und aberwitzige Dinge veranlassen, um angeblich ganz edle Ziele zu erreichen. Über dieses Kopf-Konstrukt ist niemand froh außer vielleicht die Großbanken, die EU-Großbürokratie und abgezählte Profiteure.

Die Leute an der Wurzel wollen Europa. Aber sie wollen, dass Europa für sie selbst und für ihr vertrautes Umfeld den Profit der Einigkeit abwirft. Sie wollen gerne Weltbürger sein, sie wollen gerne allgemeine Spielregeln, wollen Vernetzung, auch Solidarität. Aber sie wollen das europäische Haus nicht als Superstaat mit fernen Eliten, sondern als Miteinander von kleinen, beweglichen, selbstverwalteten Einheiten im fairen Wettbewerb untereinander.

Mit der vollen Verantwortung für das eigene kleine Land, für die Gemeinschaft mit jenen, die sich – meinetwegen – von einer „historischen Narrative“ verbunden fühlen.
Also: legen Sie die Brille von gestern ab und trainieren Sie Ihr freies Auge. Vielleicht fällt Ihnen dabei was auf. Nicht als Meinungs-Vortragender, sondern als Forscher.

***

 

Editorische Anmerkung

Urveröffentlicht auf dekas.it am 5 Sept 2014. Ohne Nachbearbeitung auf nuis.it übertragen am 02.04.2023. dege.

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